Naturreligion

Ilham Gadjimuradov
Der Kaukasus – ein geographischer, kultureller oder ethnischer Begriff? Erinnerungen an Naturreligionen im Kaukasus

Die ethnokulturelle Situation im Kaukasus ist kompliziert. Auch namhafte Forscher äußern sich zu diesem Thema sehr vorsichtig. Bisher wurde keine wissenschaftliche Methode entwickelt, mit deren Hilfe die Kulturgeschichte des Kaukasus analysiert werden könnte. Unlängst äußerte sich dazu eine Ethnologin aus Adegeja: „Vorhandene Forschungen beschränken sich im Wesentlichen auf die Beschreibung der im Alltag angewandten Normen des Verhaltens, was aber das Wesen des Ganzen nicht aufdeckt, die grundlegenden Basiskomponenten des ethnokulturellen Phänomens nicht bestimmen lässt.“

Neben der autochthonen Kaukasiern (Georgiern, Abhasen, Adygeern, Tschetschenen, Awaren, Lesgiern, Darginern, Laken usw), sind im heutigen Kaukasus Völker verschiedener Sprachen beheimatet, deren Ursprungsgebiet weit weg vom Kaukasus zu suchen ist. Doch auch bei diesen „nichtkaukasischen“ Völkern ist der kaukasische Einfluss deutlich zu erkennen. Über eine „kaukasische Kulturwelt“ kann man daher mit gleicher Berechtigung sprechen, wie zum Beispiel über die Kulturwelt griechischer, germanischer oder slawischer Völker.

An den „Schnittstellen“ zwischen der kaukasischen und nichtkaukasischen Kulturwelt sind neue Kulturen entstanden – zum Beispiel die Kultur der Kosaken, der wehrhaften russischsprachigen Bauern im vorkaukasischen Raum. Ihr Name „Kasak“ (russisch) ist eine entstellte Form der alten, kaukasischen Volksbezeichnung der Adygeer „kasog“/„keschek“. Die ursprünglich kaukasische „Herkunft“ der Kosaken ist bis heute an deren Sitten und den Familiennamen zu erkennen.

Trotz unzähliger Kriege, Vertreibungen, demographischer Umwälzungen ist es den kaukasischen Völkern gelungen, ihre Kulturen und Sprachen zu bewahren. Zum Phänomen der einheimischen Kultur gehört unter anderem die Eigenschaft, sich Elemente fremder Kulturen anzueignen, ohne dass die eigene kaukasische Komponente – der eigentliche Kern, der die meisten Bergvölker oft völlig unbewusst miteinander verbindet, – erhalten bleibt.

Zu den kulturellen Gemeinsamkeiten kaukasischer Völker gehören unter anderem die Mythen über Steingeburten, die sich in der Vorstellung eines aus einem Stein bzw. Berg geborenen rebellischen Helden manifestiert (Narten-Epik). Der Ursprung dieser Mythen, die es in dieser eigentümlichen Form außerhalb des Kaukasus nur noch bei den „ausgestorbenen“ Kulturvölkern Anatoliens verbreitet waren, wäre möglicher Weise in dem jungvulkanischen Gebiet Ostanatoliens und Kaukasiens zu suchen.

Besonders deutlich wird der kulturelle Zusammenhang zwischen den kaukasischen Bergvölkern bei der Erforschung alter Agrarkulte, mythischer Vorstellungen und epischer Traditionen. Erstaunlich einheitlich sind die Umzüge maskierter Gruppen anlässlich diverser landwirtschaftlicher Feiertage, zum Beispiel beim Frühlingsfest um die Zeit der Tagundnachtgleiche oder die Beschwörungen des Regens bei Trockenheit.

Fast identisch sind besondere Volkstraditionen, wie die demokratische Selbstorganisation der Dorfgemeinden, die Versammlungsplätze der Dorfältesten, Rituale der gemeinschaftlichen Hilfe beim Hausbau oder bei landwirtschaftlichen Arbeiten und die so genannten Adate, d. h. die allgemeinen Normen des Verhaltens, wie Rituale der Streitschlichtung, Heiratsrituale, Rituale der Blutrache.

Diese kulturellen Eigenarten, die in dieser Form sonst nirgendwo auf der Welt existieren, weisen auf die Zusammenhänge zwischen den Volkstraditionen der heutigen Kaukasier und der alten Bergvölker Vorderasiens hin (Hattier, Hurriter, Urartäer).

Besonders deutlich werden diese Beziehungen, wenn man die vorislamischen bzw. die vorchristlichen Naturreligionen der Kaukasier erforscht. Eine der zentralen Figuren im heidnischen Pantheon der kaukasischen Götter war der Gott des himmlischen Feuers, der Gewittergott: Schible bei den Adygeern, Sela bei den Tschetschenen, Zob bei den Awaren, Alpan bzw. Zalpan bei den Lesgiern.

Der Name dieses Gottes ist oft zugleich das Wort für „Blitz“. Einige Forscher haben die Verwandtschaft kaukasischen Götternamen mit den auf Keilschrift-Tafeln überlieferten Namen der Götter Anatoliens erkannt. Hierzu gehört der nordkaukasische Göttername Tschoppa/Zippa/Schible/Zob/Sela/Zalpan, der wahrscheinlich mit dem hurritisch-hethitischen und urartäischen „Teschup“/“Taischeba“ im Zusammenhang steht.

In den Bergdörfern Dagestans und Swanetiens sind außerdem bis heute Relikte eines uralten Stierkultes erhalten geblieben, der bei den antiken Agrarvölkern verbreitet war. Es ist anzunehmen, dass in abgelegenen Hochtälern die Urwohner der Bergregionen Anatoliens und des Kaukasus ihre kulturelle und sprachliche Eigenart über Jahrtausende bewahren konnten.

Die Tschetschenen verehrten vor allem den Sonnengott Malkha-Dela, dessen Namen im Tschetschenischen als allgemeiner Begriff für Gott erhalten blieb. In den Gebirgsregionen heißen die Gräber bis heute Sonnen-Grab, bezeugen uralte Felszeichnungen mit Sonnensymbolen den Sonnenkult, und heißt einer der ältesten Tukhume (Stamm) der Tschetschenen Mälkhi (Menschen der Sonne).

Weitere Götter der Weinachen (Tschetschenen und Inguschen) waren der Feuergott Ziu-Dela, der Jagdgott Elta, die Göttin der Fruchtbarkeit Tuscholi und die Göttin des Hauses Erda. Es gab die Göttin der Wahrheit Dika-Dela und die Friedensgöttin Kchokha-Dela und den Gott des Ortes Pkha-Dela.

Bis heute erinnert man sich in Tschetschenien an ein Ritual der Beschwörung des Regengottes Khin-Dela. Eine Gruppe Kinder zieht von Haus zu Haus, einen Jungen mit sich führend, der einen wasserdichten Sack über den Kopf gestülpt hat. Sie schreien: Schick ein Gewitter, Gott des Regens! Die Bewohner des Gehöfts übergießen den Regenmann mit Wasser und verteilen an die Kinder Süßigkeiten.

Die kaukasischen Völker kennen archaische Bräuche aus der Zeit des jungsteinzeitlichen Bauerntums, die sie zum Teil bis heute ausüben! Die These der Verwandtschaft der nordkaukasischen Sprachen mit den Sprachen der alten Kulturvölker Anatoliens und Zweistromlandes (Hattier, Hurriter, Urartäer) hat nach den jüngsten Arbeiten der russischen Altorientalisten und Philologen an Ernsthaftigkeit gewonnen. Hier bietet sich zweifellos ein hochinteressantes und wenig erforschtes Gebiet für Sprachforscher und Ethnologen, so dass die Bedeutung des Begriffes „Kaukasus“ im völlig neuen Licht erscheint.